iPad Pro — Präferenzen und Prioritäten
„I shit you not“, das ist der achte Versuch ein paar grundlegende Gedanken zum iPad Pro aus meinen Gehirnwindungen zu wringen. Es ist das achte Mal, dass ich mich am Abend mit Kopfhörern, dem ‚Chronicles Of The Wasteland‘-Soundtrack und einem gut gefüllten Kaffeebecher auf die Couch verziehe. Sieben Mal beendete ich einen solchen Abend vor ein paar zusammenhanglosen und (vor allem) laschen Absätzen. Dies ist der achte (und letzte) Anlauf ein paar praxisnahe Erfahrungen zum iPad Pro, die mir seit November durch den Kopf gehen, abzuschütteln.
Eigentlich weiß ich schon lange, was ich schreiben will. Es sind auch nicht die Worte, die fehlen. Es ist einzig und allein die Stärke der Formulierung, bei der ich mir unsicher bin. Tim Cooks provokante Frage: „Why would you buy a PC anymore?“ lässt sich im Jahr 2016 noch kinderleicht beantworten. War seine Aussage deshalb ein Eigentor? Vielleicht. Hat er trotzdem Recht? Ich denke ja.
Mit absoluten Aussagen liegt man aber immer falsch. (Traditionelle) PCs bleiben uns noch lange erhalten. Steht uns in den nächsten Jahren trotzdem ein fundamentaler Computerwandel ins Haus? Klar. Das ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. Wie absolut will ich also heute für das iPad argumentieren? Wie weit lehne ich mich aus dem Fenster?
Ich bin mittlerweile mein halbes Leben lang ein Mac-Nutzer. Ich liebe dieses Betriebssystem. Einige Apps verwende ich auf dem Mac schon so lange, da nannten wir sie nicht Apps, sondern noch Programme. Ich freue mich täglich darauf mein MacBook Pro (2015) aufzuschlagen. Und trotzdem weiß ich, dass das iPad Pro, das direkt daneben liegt, das Gerät ist, das eine neue Epoche einleitet, anstößt oder ihr zumindest einen ersten Stempel aufdrückt.
Ich bin also befangen. Ich bin jemand der noch Automator-Skripts benutzt, die heute keinen Sinn mehr ergeben. Sie lösen für mich Probleme, die man mittlerweile anders beantwortet. Ich finde es famous Dateien durch den Dateibaum zu schupsen und freue mich andererseits darüber am iPad nicht einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Ich weiß um meine zwei schlagenden Herzen in der einen Brust, und ich tue mich trotzdem schwer an der eigenen Perspektive vorbeizuschauen, beziehungsweise meine Gewohnheiten zu ändern.
Natürlich zwingt mich niemand zu einer Schwarz-Weiß-Meinung, einer ‚Entweder-Oder‘-Empfehlung, die „All-in on iPad Pro” vorschlägt (oder andersherum den Mac uneingeschränkt glorifiziert). Und natürlich könnte ich schlicht argumentieren wie selbstverständlich sich Mac OS und iOS nebeneinander benutzen lassen.
Doch, Nö. Das iPad Pro, das elfte Gerät dieser Kategorie in sechs Jahren, verdient kein Labarababa-Review. Es wäre (zu) leicht hier einfach nur die Vor- und Nachteile aufzuzählen und dem Ausblick – den Blick auf eine anstehende Computerepoche, die diesem Gerät unübersehbar innewohnt – auszuweichen.
Wie gesagt: Ich habe kein Problem damit iOS als Betriebssystem der Zukunft zu platzieren. Mir fällt es aber schwer das eigentliche Ausmaß abzuschätzen. Wie groß ist der Schritt den dieses Tablet in puncto Hardware geht? Wie weit sind wir noch mit der Software davon entfernt, um nur von einer Evolution, keiner Revolution, zu sprechen?
We tend to overestimate the effect of a technology in the short run and underestimate the effect in the long run.
Im November, als ich mein iPad und den Pencil entgegennahm, habe ich vermutet, dass die voranschreitende (Nutzungs-)Zeit mir alle diese offenen Frage beantwortet. Heute weiß ich: „Time is a drug. Too much of it kills you.“ Pratchett hatte einfach immer Recht.
Ich habe das iPad Pro ausprobiert – in allen möglichen und unmöglichen Situationen. Ich habe täglich neue Apps mit ‚Pro‘-Anpassung getestet, bin aber nur geringfügig schlauer und halte an der gleichen Meinung wie am ersten Tag fest: Das iPad Pro ist ein Tablet voller Präferenzen und Prioritäten.
Lasst mich ein bisschen weiter ausholen…
Die vergangenen zwei Monate haben unterstrichen, wie sehr ich es genieße unter iOS auf knapp 13-Zoll zu arbeiten – in erster Linie mit meinen Fingern. Das Pro ist der noch größere Bilderrahmen, der sich nach Belieben wandelt. Es ist eine meiner absoluten Vorlieben – meine Präferenz, wenn man sich so förmlich ausdrücken mag – damit zu arbeiten. Aufgaben, die sich am Mac wie eine Pflicht anfühlen, wirken unter iOS geradezu verspielt. Ich habe beispielsweise Anfang Dezember eine Magisterarbeit im Word-Format von einer Freundin gegengelesen. Am Mac stellen sich mir die Nackenhaare auf, wenn der Intel-Prozessor die verschachtelten Menüleisten der Microsoft-Anwendung in den Speicher schaufelt. Am iPad kann ich die viel simplere, aber gleichzeitig genauso funktionstüchtige Ansicht, beinahe genießen.
Wenn ich beim Lesen dieses Manuskripts drohte einzuschlafen, kritzelte ich meine Anmerkungen zur Abwechslung mit dem Pencil in einen PDF-Entwurf. In solchen Werken herrscht oft übertrieben viel Platz in der Seitenspalte – so auch hier. Um meine Stimmung mit passender Musik zu untermalen, zog ich eine Playlist neben das Dokument und verlor so nie meine Leseposition im Text.
Natürlich geht das alles (irgendwie) auch am Rechner. Es ist aber häufig nicht das „Ob“, sondern das „Wie“, das hier entscheidend wie man seine Arbeit bevorzugt angeht.
Ein anderes Beispiel. Ich lese für meinen iPhoneBlog-Job viel – sehr viel. Damit bin ich nicht alleine. Ich bin mir sicher, die meisten Menschen unterschätzen wie viel sie täglich an ihren Smartphones schmökern. Nicht nur weil das Telefon überall mit dabei ist, sondern weil es darin so viel besser ist. Text ist schärfer, Grafiken sind animiert, neue Artikel sind in Sekundenschnelle nachgeladen und die Bedeutung von Links muss ich niemandem erklären. Insbesondere nicht mir selbst, der die besagte Magisterarbeit, die mit einem großzügigen Anhang von Referenzen hier aufschlug, zum Glück nicht ausgedruckt durcharbeiten musste.
Lesen am iPad Pro ist anders als am iPad Air 2 oder iPad mini, weil es am Schreibtisch funktioniert. Der Bildschirm ist groß genug um Webseiten auch im Abstand, in dem gewöhnlich ein MacBook-Monitor auf dem Schreibtisch steht, zu konsumieren (und trotzdem wird die intimere und präzisere Fingerbedienung beibehalten). Mächtige Webseiten wie die New York Times erinnern auf dem iPad Pro an die klassische (Papier-)Zeitung – wer die noch kennt.
Die beiden anderen Apple-Tablets, mit ihren kleineren Bildschirmen, sind bequemer zwischen engen Flugzeugsitzen oder im überfüllten Bus. Am Schreibtisch aber genießt der ‚Pro‘-Screen meine uneingeschränkte Priorität – von Comics am Abend auf dem Sofa ganz zu schweigen.
Kurzum: Ich bevorzuge es so zu arbeiten. Der Mac ist für die genannten Beispiele nicht mehr meine erste Wahl. Das iPad Pro trifft meine Vorzüge viel eher.
Und das bringt uns zu den Prioritäten…
Phil Schiller sprach dem kürzlich ausgestrahlten 60-Minutes-Beitrag einen schönen O-Ton ein:
Charlie Rose: Is there danger of one product cannibalizing the other product?
Phil Schiller: It’s not a danger, it’s almost by design. You need each of these products to try to fight for their space, their time with you. The iPhone has to become so great that you don’t know why you want an iPad. The iPad has to be so great that you don’t know why you why you want a notebook. The notebook has to be so great, you don’t know why you want a desktop. Each one’s job is to compete with the other ones.
Die kleinen Bildschirmgrößen der bisherigen iPads konkurrierten bislang nur eingeschränkt mit dem Mac. Nehme ich heute, zwei Monate nach intensiver Nutzung des iPad Pros, mal wieder ein iPad in regulärer Größe in die Hand, verwundert es mich wie viel wir schon auf diesem wesentlich beschränkteren Bildschirmplatz geschafft haben.
Das iPad Pro, mit seinen stattlichen 12.9-Zoll und seinem Prozessor auf MacBook-Niveau, lenkt das iPad erstmals auf den direkten Konfrontationskurs mit unserem Mac. Die Hardware ist mittlerweile vergleichbar; die Software macht den Unterschied. Die beiden Computer tun nicht einfach das Gleiche, sie überschneiden sich aber drastisch für die gängigsten Tätigkeiten vieler Anwender. Dabei sind es die eigenen Prioritäten, mit denen man selbst bestimmt, welchem System man dafür den Vorzug gibt.
Ein dabei oft unterschätztes Argument: Weniger ist manchmal mehr (und ein Arbeitsgerät ohne Support- und Wartungsbedarf eine durchaus nachvollziehbare Wahl).
iPad isn’t a real PC because there’s no terminal. And because it never has problems that require terminal to debug. pic.twitter.com/zp9wsrtVeE
— Andy Ihnatko (@Ihnatko) 15. November 2015
padOS
Wenn es Apple mit dem iPad aber ernst meint, trennen sie ihre Tablets stärker vom iPhone. Der luftige Homescreen, bei dem unglaublich viel Platz zwischen den App-Icons verloren geht, ist auf dem iPad Pro ein noch größerer Witz. Die zaghaften Versuche von Multitasking (Wo ist ‚Drag and Drop‘ zwischen zwei Apps in der Split View?), die minimal größeren Ordner und die Detailanpassungen der Mitteilungszentrale lasse ich nicht einmal als Babysteps durchgehen.
Fünf Jahre sind eine lange Zeit um ein Betriebssystem aufzuziehen und Software ins Ökosystem einzuspeisen. Allerspätestens mit dem iPad Pro ist jetzt die Zeit gekommen sich Ideen für die (enorm lange und leere) Menüzeile zu überlegen. Das Kontrollzentrum, das man von unten ins Bild wischt, wirkt deplatziert, mit mittlerweile mehr Weißflächen als Buttons, die Tastatursteuerung ist unausgereift und die Zwischenablage mit nur einem einzigen Item ist absolut unpraktisch.
Der Fokus auf die Fotobibliothek, als zentralen Speicherort für alle Bilder, stört. Regelmäßig bin ich dort gezwungen Fotos für das Blog aus der privaten Bildersammlung zu fischen. Außerdem brauchen Entwickler von App-Store-Software mehr Hilfestellungen um Apps zu entwickeln, die einen Lebenszyklus von Jahren und nicht nur Monaten haben.
Apples Hardware ist erneut brillant. Die nur passable Software aber – und die Anreize um Apps neu zu entwickeln – ist ein sprichwörtlicher Anker am Fußgelenk.
Warum Apple für iOS nicht schon vor dem Verkaufsstart vom iPad Pro die Zeit fand das Betriebssystem deutlicher auf dieses Gerät einzuschießen, bleibt unbeantwortet. Ich wette zwar, das bleibt alles nur eine Frage der Zeit, hilft uns im hier und heute aber natürlich keine Spur.
„Having said that…“
Der App Store ist ein entscheidender Grund sich fürs iPad Pro zu entscheiden (und beispielsweise gegen ein Microsoft Surface). Die besten Versionen von Tweetbot, Slack, VSCO, Ferrite, Coda, Procreate und Instapaper – um eine Handvoll zu nennen – gibt es weiterhin nur unter iOS.
Diverses
- Das iPhone 6s hat mich mit der zweiten Generation von Touch ID verzogen. Die erste Generation, die sich im iPad Pro findet, fühlt sich im Vergleich irrsinnig langsam an. Und da ich beide Geräte täglich nutze, fällt mir der Unterschied konstant auf.
- Die vier Lautsprecher, die sich clever danach orientieren wie herum ich das Pro drehe (Bass unten, Mittel- und Hochtöner oben), verzerren selbst auf höchster Lautstärke nicht. Kein Mac klingt annähernd so gut. Beispiel gefällig? Neujahr haben wir in einer Ferienwohnung ohne Musikanlage verbracht. Das iPad Pro beschallte als Jukebox mehr als zufriedenstellend das komplette Wohnzimmer (und diente außerdem als Facetime-Konferenz-Maschine).
- Der Grund, warum Apple große Lautsprecher wählte, anstelle den Platz im Gehäuse mit zusätzlichen Akkus auszupolstern, ist das noch sehr passable Gewicht. Das iPad Pro ist schwer, so schwer wie die allererste iPad-Generation, fühlt sich durch den größeren Bildschirm aber ausbalanciert an. Die Laufzeit im Verhältnis zum Gewicht und der Größe ist ein gelungener Kompromiss.
- Um mich einmal selbst zu zitieren: „Apple Pencil ist das einzige Zubehör, das man wirklich wirklich braucht, wenn man ein iPad Pro kauft.“ Das Smart Keyboard empfinde ich für mich persönlich als ein unersetzliches Accessoire, es ist jedoch der Pencil, den man sich auch ohne konkreten Grund in den Einkaufswagen legt – seine Möglichkeiten sind enorm und die Option ihn ohne Kabel, innerhalb von wenigen Sekunden am Lightning-Port, aufzuladen (auch wenn das komisch aussieht), schlicht praxisnah.
- Durch Apples Smart Connector fließen Daten und Strom – das ist grundsätzlich interessant. Ob wir dafür aber jemals mehr Zubehör sehen als nur eine Tastatur, bleibt abzuwarten. Ob wir den Anschluss überhaupt zukünftig in anderen Geräten finden, ergänzend (?) zu Bluetooth, Lightning und USB-C, ist ebenso fraglich.
- 4 GB Arbeitsspeicher sind in der iOS-Landschaft bislang ungesehen. Es ist geradezu auffällig wie beispielsweise Spiele im Hintergrund einfrieren und selbst nach mehreren Tagen in denen man sein Game pausiert hat, wieder aufwachen und an der aktuellen Position weiterspielen. Es ist also nicht ausschließlich die Hardware, die den Arbeitsspeicher einfordert, sondern tatsächlich ein Spielraum für Apps.
Fazit
Das iPad Pro ist nicht für jeden und insbesondere nicht für jeden schon jetzt. Dieses Tablet ist ein Blick in die Zukunft, den man sich leistet, wenn man schon heute fühlen will, wie man Morgen arbeitet1.
Bis zum Mainstream, dort wo nach acht Jahren das iPhone angelangt ist, dauert es noch. Das liegt a) an der Software und den Services sowie b) einem Umdenken beziehungsweise Aufgeben alter Arbeitsweisen. Beides hält das iPad zurück; beides wird sich ändern. Wer bezweifelt ernsthaft, dass uns nicht gerade eine Generation von Webdiensten ins Haus steht, die mit bisherigen Traditionen bricht2. Und wer glaubt wirklich, das unsere Jugend, die mit iPods, iPhones und dem Netz aufwuchs, noch vor den gleichen Laptops sitzt, vor denen wir gerade hocken?
Für die meisten Menschen wird das Smartphone der nächste Computer. Und da das Tablet dem Smartphone bedeutend näher steht als unseren PCs, ist die Frage in was ich Zeit und Geld investiere, gar nicht so schwierig. Allem voran hat das iPad Pro mit iOS aber das lebhaftere Betriebssystem.
In order to really create a new category of devices, those devices are going to have to be far better at doing some key tasks… Better than the laptop. Better than the smartphone.
Steve Jobs, 2010
Sechs (ereignisreiche) Jahre später, hat sich diese Gerätekategorie etabliert. Und jetzt ist es das iPad Pro, das mit Pencil und A9x-Prozessor plötzlich jene Aufgaben übernimmt, die zuvor als unangreifbar auf dem Mac galten.
Zu diesem Status quo gelangt man nur mit einem langen Atem. Apple bewies bislang diese Ausdauer. Das iPad Pro ist abermals ein kräftiger Atemzug in Richtung Zukunft.